„Indien ist nicht, wie viele sagen, ein unterentwickeltes Land. Wenn man auf die Geschichte und das kulturelle Erbe schaut, handelt es sich vielmehr um ein hochentwickeltes Land in einem fortgeschrittenen Zustand des Verfalls.“
Diese Worte stammen vom indischen Politiker und Schriftsteller Shashi Tharoor. Während meines zehnwöchigen Projekteinsatzes in Oragadam hatte ich die Chance, herauszufinden, dass dieses Zitat meine Wahlheimat auf Zeit sehr treffend beschreibt.
Ich bin Susanna Obieglo und duale Studentin für Wirtschaftsingenieurwesen bei EvoBus in Neu-Ulm. Als duale Studierende haben wir das große Glück, neben den Theoriesemestern, sechs verschiedene Abteilungen jeweils drei Monate lang hautnah in der Praxis zu erleben. Und eine davon sogar im Ausland.
Die EvoBus vertritt Daimler Buses in Europa und so war für mich klar, dass ich die Chance nutzen möchte, das Busgeschäft auch außerhalb dieses Kontinents kennenzulernen. Wegen meines Studiums habe ich einen Produktionsstandort gewählt: Indien. Bei Daimler India Commercial Vehicles – kurz: DICV – werden seit mehreren Jahren schon LKWs produziert und nun sind auch seit 2015 Busse Teil des Produktportfolios.
Ein Kulturschock
Von Indien habe ich zuvor schon viel gehört, wobei die Meinungen weit auseinander gehen. Jene, die das Land nicht kennen, erzählen die schlimmsten Geschichten, die man aus den Nachrichten mitbekommt. Und jene, die tatsächlich dort waren, schwärmen meistens davon – wobei auch von ihnen nur wenige vom Kulturschock verschont blieben. So hatte ich wenig Ahnung, auf was genau ich mich eingelassen hatte und war sehr gespannt, was mich mehrere tausend Kilometer entfernt erwarten würde.
Die Reise in eine andere Welt
Nachdem alles Organisatorische, wie das Visum, die nötigen Impfungen, Flugbuchung, sowie die Wahl der Unterkunft erledigt war, konnte ich Anfang April in den Flieger steigen. Endlich am Flughafen in Chennai angekommen, haben mich um zwei Uhr nachts Temperaturen sowie eine Luftfeuchtigkeit, die einem Dampfbad glich, empfangen. Die ersten Tage konnte ich in meinem zukünftigen Zuhause unweit des Flughafens mitten in Chennai nutzen, um mich an das Klima und die unfassbaren Menschenmengen, die Verkehrsdichte und den Lärm zu gewöhnen.
Dass man deswegen nicht ganz so schnell unterwegs ist wie in Deutschland, hatte ich schon geahnt. Eineinhalb Stunden Fahrt zum 40 Kilometer von meiner Unterkunft entfernt gelegenen Werk in Oragadam waren dennoch überraschend. Es ging durch Chennai durch, vorbei an all dem Trubel. Um uns herum war nichts, außer wenige Werke neben DICV.
Dort angekommen, sah Indien ganz anders aus als das, was ich bisher von der Stadt gesehen hatte: sehr grün, sehr sauber, die Straßen und Wege intakt und die Gebäude wie wir sie aus Deutschland kennen. So konnte mein erster Arbeitstag bei DICV im Team „Project House India“ beginnen. Auch der sah ganz anders aus, als in Deutschland. Zwischen 7 Uhr und 7:30 Uhr sind die Firmenbusse eingetroffen und es gab dann erstmal Frühstück in der Kantine. Um 8 Uhr begann der normale Arbeitstag. Nach einem Mittagessen konnte die Arbeit dann bis 17:30 Uhr fortgesetzt werden, wobei hier natürlich nicht auf Kaffee- und Teepausen verzichtet werden musste.
Einmalige Chance und schneller Projektabschluss
Schnell konnte ich mich für ein Thema für meine Projektarbeit begeistern: Die Erstellung und Implementierung eines neuen Prozesses für die Produktplanung, basierend auf den Dokumenten des deutschen Projekthauses, welches das weltweite Projektmanagement bei Daimler Buses übernimmt. Hier ging es im Wesentlichen darum, einen Prozess aus Deutschland an die Lokalitäten in Chennai, sowie ein anderes Produktportfolio, anzupassen, sodass die Produktplanung in Indien einem ähnlichen Prozess wie in Deutschland folgen kann.
Dieses Projekt war für mich eine einmalige Chance, da das Unternehmen noch sehr jung ist und dadurch der Bedarf nach vielen Prozessen besteht. Durch diese Flexibilität war es möglich, alles bis zur Einführung des Prozesses umzusetzen, sodass das Projekt mit meiner Rückkehr nach Deutschland im Großen und Ganzen abgeschlossen war.
Nach den langen Arbeitstagen ging es dann wieder Richtung Innenstadt, wo mich der Firmenbus meist gegen 20 Uhr daheim absetzte. Damit blieb unter der Woche kaum Zeit für andere Dinge – vielleicht ab und an ein Abendessen, wenige Stunden in der Kletterhalle oder doch noch ein Film im Kino. Denn am nächsten Tag um fünf Uhr klingelte wieder der Wecker!
Was hat Indien sonst noch zu bieten?
So blieben mir nur noch die Wochenenden, um die Stadt und das Land – oder zumindest einen kleinen Teil davon – zu erkunden. Vor allem die ersten Wochenenden habe ich zum Reisen genutzt und so habe ich mir das moderne Mumbai, Bangalore und die Teeplantagen in Ooty auf einer Höhe von 2.200 Metern angeschaut. Dort war es zur Abwechslung etwas kühler. Außerdem habe ich noch eine Nacht auf einem Hausboot auf den Backwaters in Allepeye verbracht.
Es handelt sich hierbei um ein Wasserstraßennetz im südindischen Bundesstaat Kerala. Dort hat mich sogar der Monsun erwischt, was dazu geführt hat, dass mein ganzes Gepäck durchnässt war und ich mich sogar auf die gefühlten 45 Grad in Chennai gefreut habe. Egal, wo ich war, das Essen hat immer anders, aber immer gut geschmeckt, auch wenn es einige Zeit braucht, um sich daran zu gewöhnen. Auch anders als ich es bisher kannte, waren die unterschiedlichen Gerüche, die von Blumen und ähnlichen Düften, bis hin zu Kühen und dem Fischgeruch in der Nähe der Fischhalle in Mumbai reichen. Weiter ist es auch bunter als alles, was ich sonst bisher gesehen hatte.
Neue Freundschaften
Gegen Ende meines Aufenthalts in Indien habe ich mich die meiste Zeit in Chennai mit meinen neu gewonnenen Freunden aufgehalten.
An einem Samstag habe ich mir einen kleinen Ort namens Mamallapuram angeschaut, wo Krishnas Butterball, ein großer Stein, in der Luft zu schweben scheint. Bis auf den einen oder anderen Tempel bietet Chennai selbst nicht sonderlich viele Sehenswürdigkeiten. Man kann die Zeit aber auch am Strand, beim Surfen, oder einfach in einem netten Café bei einem kühlen indischen Bier verbringen.
Meine zehn Wochen in Indien waren eine unglaubliche Erfahrung. Nicht nur fachlich konnte ich viel lernen, auch persönlich bin ich an jedem Tag und an jeder neuen Erfahrung gewachsen. Es sind Freundschaften entstanden, bei denen ich mir sicher bin, dass sie sehr lange halten werden. Bilder und Emotionen haben sich mir eingeprägt, die niemals verloren gehen. Das eingangs genannte Zitat scheint mir mehr als angemessen und ich bin sehr dankbar, dass ich diese andere Welt kennen und lieben lernen durfte.
Der Beitrag Chennai calling: Als Duale Studentin in Indien erschien zuerst auf Daimler-Blog.